Freitag, 5. November 2010

Die Lehre des wilden Bauches


Geschrieben von Rosina-Fawzia Al-Rawi   

Meine Großmutter beobachtete mich oft von ihrer Bank aus, auf der sie im Schneidersitz ruhte. Stundenlang saß sie da, ohne sich zu bewegen, während alle im Haus zu ihr kamen und sie um Rat baten oder ihre Befehle entgegennahmen. Sie war eine stolze, von unsichtbarer Kraft durchdrungene Frau. Eines Tages rief sie mich zu sich. Ich kam und sah eine Tafel neben ihr stehen: "Komm, setz dich zu mir. Ich möchte dir eine alte Kunst beibringen. Nimm diese Kreide in die Hand", sie legte sie mir zwischen Daumen und Zeigefinger, "nun forme einen Punkt und konzentriere dich mit deiner ganzen Kraft auf diesen einen Punkt. Er ist der Anfang und das Ende, er ist die Essenz und die Einheit, der Nabel der Welt". Immer wieder formte ich diesen Punkt, und immer wieder sagte meine Großmutter: "Konzentriere dich mit deinem ganzen Sein auf diesen Punkt und laß ihn aus dir fließen, bis du weißt, wer wirklich diesen Punkt formt, bis es zwischen dir und diesem Punkt keine Grenzen mehr gibt."

Ich verstand nicht ganz, was sie damit meinte, und es widerstrebte mir, immer wieder dieses einfache Zeichen auszuführen, doch nach einer Weile merkte ich, wie meine Hand von alleine floß und sich immer mehr an diesen Punkt schmiegte. Ich verlor meine Gedanken, und nur mehr dieses Zeichen existierte für mich. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, als meine Großmutter sagte: "Jetzt geh und komm wieder, wenn ich dich rufe." Am nächsten Tag rief sie mich wieder: "Komm, Fawzia!" Sie saß an ihrem üblichen Platz, und wieder stand die Tafel neben ihr. "Forme jetzt den ersten Buchstaben des arabischen Alphabets, das alif, einen senkrechten Strich; beginne von oben und führe ihn mit einer leichten Hand und deiner ganzen inneren Kraft nach unten. Laß diesen Strich so lang wie drei untereinander liegende Punkte sein." Wieder nahm ich die Kreide zwischen Daumen und Zeigefinger und formte das alif. "Das alif ist die erste Manifestation des Punktes", erklärte sie, "unvergleichbar mit jedem anderen Buchstaben und in jedem enthalten. Forme es mit Ehrfurcht, den das alif ist die Sehnsucht des Punktes, sich zu zeigen.
Durch die Sehnsucht des Punktes, über sich selbst hinauszuwachsen, entstand das alif. Und jeder Buchstabe in seinen verschiedenen äußeren Formen ist in der Essenz doch das alif." Wie schwierig es doch für mich war, diesen einfachen Buchstaben zu formen! Ich wiederholte ihn so oft, bis ich das alif in allen Dingen sah. Es tauchte überall auf, wohin mein Blick auch schweifte. Ich spürte, wie mein Körper sich mehr straffte und zu einem lebendigen alif wurde. Meine Arme, meine Hände, mein Rumpf, meine Beine und Füße - alles zeigte sich als alif. Wie ein Strichmännchen wurde ich auf das wesentlichste reduziert, klar und durchsichtig.
Wieder kam ein Tag, an dem mich meine Großmutter zu sich rief. Sie saß draußen im Garten auf ihrer Bank, ein Bein unter den Körper gelegt, während das andere den Boden berührte. "Stelle deine Füße fest auf die Erde und verteile dein Gewicht gleichmäßig auf beide Beinen.  Jetzt schiebe dein Becken einmal nach links hinaus und einmal nach rechts hinaus, als würdest du eine Schale formen. Halte jedesmal an, wenn du an dem äußersten Punkt angelangt bist, und wiege dich dann wieder über die Mitte entlang zur anderen Seite.
So, jetzt komm und forme dieselbe Bewegung mit der Kreide auf der Tafel: . Erinnert dich diese Form an etwas?" "Es ist der zweite Buchstabe im Alphabet, Großmutter, nur der Punkt darunter fehlt." "Der Punkt ist der Anfang", erklärte sie mir, "aus ihm entstehen alle anderen Buchstaben. Er liegt darunter und das alif dazwischen: Gemeinsam ergeben sie das Wort, einen der göttlichen Namen. Wenn du dich um dich selbst drehst oder mit dem Becken kreist, dann formst du den Punkt, den Ursprung. Aus dieser Form entstehen alle anderen Bewegungen, sie kommen alle aus diesem Punkt, aus dem Nabel auf deinem Bauch."
Es war spannend zu wissen, daß ich eine Quelle mit mir trug, der alles entstammte. Immer wieder betrachtete ich ehrfurchtsvoll meinen Nabel, diese nach innen gehende Spirale. Es gab mir ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, mit soviel Macht im Bauch herumzulaufen.

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